Timorasso ist eine alte Sorte und dabei doch ein neues Phänomen. Bevor die Reblaus ihr Unwesen in den Weinbergen Italiens trieb, war sie vor allem im Südpiemont, in der Südlombardei und selbst in der Region um Genua weit verbreitet. Weggefressen von dem mikroskopischen Insekt war ihr danach eine Auferstehung fürs erste nicht gegönnt. Ein Grund dafür wird wohl der gewesen sein, dass sie im Weingarten nicht besonders pflegeleicht war: im Frühjahr verrieselte sie gerne und im Herbst wuchsen in ihren Trauben nicht nur unterschiedlich große Beeren, sie reiften auch oft noch zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Die Reblaus war folglich ein willkommener Anlass sie einfach zu vergessen.
IN DER HEIMAT DES CAMPIONISSIMO Doch passierte das Vergessen glücklicherweise nicht kollektiv: speziell in den Colli Tortonesi, einer bis heute tief bäuerlich geprägten Region und Heimat von Fausto Coppi, dem größten aller großen campionissimi, die Italiens Radsportwelt hervorbrachte, ignorierte man das Ignorieren und setzte weiterhin auf die eigenwillige Sorte. 1929 beispielsweise bestockten Carlo und Clementina Ricci ihre Weingärten in San Leto mit Timorasso, aus denen ihr Enkel Daniele heute einen Weißwein keltert, auf den sie mit Sicherheit stolz sein würde. Die Riccis waren allerdings viel zu leise und bescheiden, um die Sorte auf der Weinlandkarte Italiens zu positionieren. Dieses Verdienst kommt Walter Massa zu, der ein paar Kilometer weiter seit nunmehr zwanzig Jahren ein paar Weine keltert, die mit klarer aber eindringlicher Stimme vom Potenzial des Timorasso erzählen: keine einfachen Weine, doch Weine, die ins Detail gehen und bei aller Stringenz und Geradlinigkeit am Gaumen doch auch Räumlichkeit und Tiefe erzeugen.
SENSORIK: Die stabile Achse des Timorasso ist seine Säure, weshalb ihn manche Kritiker recht voreilig mit Riesling vergleichen. Doch zum einen wirkt die Säure sensorisch anders, zum anderen kann man die fruchtige Aromatik des Rieslings im Timorasso lange suchen (zumindest in den Versionen von Daniele Ricci, Walter Massa, Valli Unite oder Andrea Tirelli). Dafür finden sich Mandeln, weiße Blüten, Kräuter und eine Menge Steine, die pauschal unter dem Schlagwort Mineralität laufen. Gut und behutsam vinifiziert (gesunde Beeeren, spontan vergoren und mit Geduld in großen Holzfässern ausgebaut) reift Timorasso über Jahre und Jahrzehnte – Daniele Riccis 2004er San Leto hatte im Jahr 2017 noch immer eine quasi körperverwandelnde Saftigkeit und Frische.
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