Sardinien, meinen die Sarden, sei ein Kontinent für sich. Das mag für all jene, die vom Festland rüber auf die 24000 qkm große Insel schauen, maßlos übertrieben klingen, ist man allerdings erstmal dort, kann man dieser Einschätzung allerdings einiges abgewinnen. Vermutlich war diese Wahrnehmung vor ein paar Jahrzehnten (und Jahrhunderten sowieso) noch wesentlich ausgeprägter, als man sich, fernab vom Festland und vom Fernseher, zumindest in weiten Teilen des Landes auf sardisch unterhielt und ansonsten in Dialekten, die oft mehr französische als italienische Anklänge hatten.
Die geographische Sonderstellung mitten im Mittelmeer und die topographische Konstellation der Insel sorgten jedenfalls dafür, dass es in vielen Teilen der Insel Einflüsse von außen nur selten gab. Setzte sich jedoch irgendwann ein Habitus durch, dann blieb er auch, wurde weiter kultiviert und irgendwann auch Bestandteil sardischer Identität. Kulinarisch spiegelt sich das in einer völlig eigenständigen Esskultur wider, die zwar gelegentliche Überschneidungen mit der italienischen Küche aufweist, meist jedoch ganz eigene Wege eingeschlagen hat (wer wissen will, was es mit Casu marzu, Bottarga, Fregula, Casizol oder Su porceddu auf sich hat, dem sei die exzellente deutschsprachige Seite: www.sardinien-auf-den-tisch.eu empfohlen: HP weiß wirklich, was in Sardinien vor sich geht und vor sich gegangen ist). Vitikulturell sieht das nicht anders aus.
Seit gut 3000 Jahren wird auf Sardinien Wein gekeltert, länger als irgendwo sonst im heutigen Italien. Verantwortlich dafür dürften zuallererst die Phönizier gewesen sein, die nicht nur Cagliari gründeten, sondern auch ein paar Rebstöcke in die Böden der Insel setzten. Sollte es sich dabei tatsächlich um Nuragus und Malvasia gehandelt haben – wie nicht nur eingefleischte Sarden, sondern auch seriöse Ampelographen behaupten – wären die beiden auch heute noch gerne kultivierte Sorten, die mitunter ältesten der Welt. Etrusker, Punier, Römer, Byzantiner, Araber und Spanier machten damit weiter und sorgten zudem auch immer wieder für neue Anpflanzungen. Auf das Konto der Spanier geht beispielsweise Monica, lokal auch Mora di Spagna genannt, die heute in Punkto Quantität drittwichtigste Sorte der Insel, vor allem aber Cannonau, international besser bekannt unter den Namen Grenache oder Garnacha. Cannonau dürfte im Zuge der Eroberung Algheros 1354 durch Peter IV von Aragon nach Sardinien gebracht worden sein. Im Laufe der Jahrhunderte hat sie dann langsam ihren Siegeszug über die gesamte Insel angetreten; 7700 Hektar Rebfläche legen davon Zeugnis ab.
Auch wenn der Weinbau auf Sardinien aufgrund der meist sandigen Böden und der oft chronischer Trockenheit nie einfach gewesen sein dürfte, gab es abgesehen vom frühen Mittelalter keine Phase in der steinalten Geschichte der Insel, in der Wein nicht eine eminente Rolle gespielt hätte. Das führte neben einer beeindruckenden Bandbreite autochthoner und bis heute angebauter Reben (Pascale, Bovale, Torbato, Nieddera, Cagnulari, Barbera sarda, Girò, Nasco, Granazza – ganz fantastisch ist Giuseppe Sedilesus Perda Pintà, ein 16,5%es Weißweinkoloss, das trotz des atemberaubenden Alkohols unfassbarerweise Spaß macht und sogar Trinkfluss hat – Muristellu, Semidano…) auch zur Etablierung eigener Erziehungssysteme und Weinstilistiken. Vernaccia di Oristano beispielsweise ist ein unter Florhefe reifender sherryähnlicher Wein, dem allerdings kein Alkohol beigesetzt wird und der klassisch oxidative Noten (Mandeln, Trockenfrüchte) mit etwas Restsüße kombiniert. Malvasia di Bosa wird ebenfalls seit Jahrhunderten gekeltert, wobei man sich bei seiner Produktion seit jeher alle stilistische Optionen offen gelassen hat. Das hat dazu geführt, dass jeder Winzer seine eigene Herangehensweise hat – mit dem einzigen gemeinsamen Nenner, dass Malvasia di Bosa immer süß ist. Den besten keltert übrigens Giovanni Battista Columbu, dem Jonathan Nossiter in seinem Film Mondovino ein kleines Denkmal gesetzt hat und von dem man in Sardinien sagt, dass er, der neben seiner Tätigkeit als Winzer auch für den Partito sardo d’Azione arbeitete, der einzige sardische Politiker war, der nach seiner politischen Karriere noch im selben Haus wohnte wie davor.
Auch wenn rote Sorten in Sardinien mit 69% Rebfläche ganz klar den Ton angeben, ist es doch dem weißen Vermentino di Gallura vorbehalten, als einzigem Wein DOCG-Status zu genießen. Wie auch in anderen Regionen Italiens ist das nur bedingt nachvollziehbar. Zum einen, weil es zumindest meiner Ansicht nach keine wirklich herausragenden Beispiele dafür gibt (wobei ich gestehe, dass ich auch nicht alle relevanten Vermentinos aus der Gallura kenne. Der beste der Insel findet sich übrigens nicht in der Gallura, sondern ganz im Süden, in Villasimius, gekeltert von Meigamma), zum anderen, weil es Regionen gibt, die es sich ebenfalls (oder eben mehr) verdient hätten.
Allen voran die Cannonau-Hochburgen rund um Mamoiada, einem kleinen, auf 650 Metern gelegenem Ort, in dem zwar extrem alkoholische aber eben auch strukturierte, komplexe und ausbalancierte Weine gekeltert werden. Diese Balance zwischen immensem Alkohol und erstaunlichem Trinkfluss, die nicht nur in Mamaoiada sondern auf der ganzen Insel ein einigender Nenner zu sein scheint, hat mehrere Gründe: zum einen verweist man gerne auf die unzähligen alten Rebstöcke, die an die Trockenheit gewöhnt sind, tief wurzeln, für eine ausreichende Nährstoffversorgung und folglich auch für Gleichgewicht sorgen. In vielen Regionen – unter anderem rund um Mamoiada – findet man zudem Weingärten auf 700 Metern und mehr, was zu ordentlichen Tag-Nacht-Unterschieden und weiterführend zu kühl strukturierten Weinen führt. Ein dritter und ebenfalls wesentlicher Faktor ist der Wind – der bläst Tag und Nacht über die Insel und tut das seine, um den Weinen eine erstaunliche Lebendigkeit einzuhauchen.
Wind sollte im Verbund mit der Trockenheit eigentlich auch Anreiz für nachhaltigen Weinbau sein und davon spürt man in letzter Zeit immer mehr. Immer mehr Winzer verschreiben sich biologischer Bewirtschaftung, allen voran in Mamoiada, wo angeblich niemand mehr zu Pestiziden und Fungiziden greift. Weder Giovanni Montisci und Giuseppe Sedilesu, die beiden nicht zu Unrecht bekanntesten Winzer des Ortes, sondern auch Giampietro Puggioni, Giampaolo Paddeu, die Cantina Vikevike und die Cantina Canneddu oder Antonio Mele.
Aber auch im Nordwesten und im Süden der Insel trifft man auf Winzer, mit denen man sich genauer beschäftigen sollte. Unter den Radikalen Sardiniens bzw. denjenigen, die im Weingarten auf Kultur statt auf Chemie und im Keller auf Handwerk statt auf Hochtechnologie setzen, gehört die Tenuta Dettori völlig zurecht zu den bekanntesten. Ihre Weine sind komplex und kompromisslos, getreue Abbilder ihrer natürlichen Voraussetzungen und ihrer Sorte. Dieselbe Herangehensweise verfolgt 80 Kilometer nördlich von Cagliari, in Nurri, Gianfranco Manca von Panevino, der wuchtige und oft wilde Weine keltert oder Enrico Esu in Sulcis, dem alten Kohlerevier der Insel, der ungemein kraftvolle und langlebige Weine aus Carignano fabriziert – extreme aber lohnenswerte Gegenentwürfe zu den Weinen vieler Winzer und Genossenschaften, die zwar auf autochthone Sorten setzen, diesen jedoch durch konventionelle Methoden im Weingarten und einem übertechnisierten Ansatz im Keller Charakter und Originalität rauben.